Die Macht der frühen Prägung
- Manuel Schönthaler

- 23. Okt.
- 4 Min. Lesezeit
Warum wir emotional nie wirklich „erwachsen“ werden

Vielleicht glaubst du, du hättest deine Kindheit längst hinter dir gelassen.
Du hast dich losgelöst, ein eigenes Leben aufgebaut, arbeitest, funktionierst, hast vielleicht schon Familie.
Aber manchmal reicht ein einziger Satz – und du spürst plötzlich dieses Ziehen in der Brust, diese Mischung aus Wut, Scham und Hilflosigkeit.
Wie früher.
Als du klein warst und gelernt hast: „Wenn ich brav bin, werde ich geliebt.“
Genau hier beginnt die Macht der frühen Prägung.
Die unsichtbare Bühne deiner Kindheit
Kein Mensch kommt neutral ins Leben.
Wir wachsen in emotionale Systeme hinein – in Dynamiken aus Nähe und Distanz, aus Erwartungen und Enttäuschungen, aus Liebe, die sich manchmal nur dann zeigt, wenn wir etwas „richtig“ machen.
Wenn du als Kind gespürt hast, dass du Zuneigung verdienen musst, dann hast du ein unbewusstes Skript entwickelt, das dich bis heute steuert.
Ein stiller Satz in dir, der sagt:
„Ich darf erst entspannen, wenn ich alles richtig gemacht habe.“
Dieses Skript läuft weiter – egal, wie alt du bist.
Es lässt dich im Job zu viel leisten, in Beziehungen zu viel geben, dich in Freundschaften anpassen oder immer wieder Menschen anziehen, die deine Grenzen testen.
Das „Überlebens-Ich“
Als Kind hattest du keine Wahl.
Du brauchtest Bindung.
Also hast du eine Version von dir erschaffen, die funktioniert – um zu überleben.
Diese Version nenne ich das Überlebens-Ich: die brave Tochter, der starke Sohn, der Unauffällige, die Kümmernde, die Stille, die Wütende.
Das Problem ist: Dieses Überlebens-Ich ist ein Programm, kein Selbst.
Es schützt dich – aber es lässt dich nicht leben.
Es sorgt dafür, dass du dich immer wieder selbst verlässt, sobald ein Gefühl auftaucht, das „zu viel“ ist.
Wenn das alte System dich heute noch steuert
Stell dir vor, du sitzt in einem Meeting.
Jemand kritisiert deinen Vorschlag, freundlich, sachlich.
Aber in dir zieht sich sofort etwas zusammen.
Du spürst Druck, willst dich rechtfertigen, besser machen, perfekt sein.
Objektiv passiert nichts Bedrohliches –
aber dein Nervensystem glaubt, es geht um Liebe.
Genau das ist der Mechanismus der frühen Prägung:
Wir reagieren auf heutige Situationen mit alten Programmen, weil unser Körper noch immer im Gestern lebt.
Solange diese Programme unbewusst laufen, bist du nicht frei.
Du bist loyal – zu deinem alten System, nicht zu dir selbst.
Die stille Abhängigkeit
Viele Erwachsene leben mit einer inneren Sehnsucht, die sie kaum benennen können.
Sie nennen es Erfolgshunger, spirituelle Suche, Einsamkeit, Beziehungschaos. Aber darunter steckt oft dasselbe Muster: die Suche nach der Mutterenergie, die nie wirklich genährt hat.
Wenn Liebe mit Angst vermischt war, dann lernt dein System:
Nähe ist gefährlich.
Liebe tut weh.
Ich bin nur sicher, wenn ich mich anpasse.
Das führt dazu, dass du dich heute in Beziehungen emotional kleiner machst, als du bist – oder gar nicht erst richtig einlässt.
Dein System verwechselt Bindung mit Gefahr.
Und solange du das nicht erkennst, wiederholt es sich – leise, konsequent, unausweichlich.
Der erste Schritt in die Selbstbegegnung
Die Arbeit mit frühen Prägungen beginnt nicht im Kopf.
Sie beginnt dort, wo du spürst, dass etwas in dir reagiert, obwohl du „weißt“, dass es keine Gefahr gibt.
Ein kurzer Moment der Wahrnehmung kann alles verändern:
„Ah, da ist dieses Ziehen in der Brust. Ich kenne das. Das bin nicht ich – das ist mein altes Programm.“
Das ist Selbstbegegnung.
Nicht Verstand, sondern Präsenz.
Nicht Analyse, sondern Kontakt.
Kleine Übung: Das innere Kind sehen, ohne es zu therapieren
Schließe für einen Moment die Augen.
Atme tief ein und aus.
Spüre deinen Körper.
Dann erinnere dich an eine aktuelle Situation, in der du dich klein, unsicher oder überfordert gefühlt hast.
Statt dich zu bewerten, frage leise:
„Wie alt fühlt sich das gerade an?“
Vielleicht siehst du ein Bild, vielleicht spürst du nur etwas – eine Enge, ein Drücken, ein Rückzug.
Das ist dein jüngerer Anteil.
Sag innerlich:
„Ich sehe dich. Ich bin jetzt da.“
Bleib ein paar Atemzüge dort.
Nicht um etwas zu verändern – sondern um nicht wieder wegzugehen.
Das ist der Anfang von Heilung:
Wenn du beginnst, dich selbst zu halten – so, wie dich damals niemand halten konnte.
Fazit
Die Macht deiner frühen Prägung liegt nicht darin, dass sie dich festhält –
sondern darin, dass du sie noch unbewusst wieder herholst.
Wenn du beginnst, sie zu sehen, zu spüren, zu bezeugen, dann beginnt etwas Neues:
nicht das Ende deines Schmerzes,
sondern das Ende deiner Ohnmacht.
Und genau dort beginnt Selbstbegegnung –
nicht, um „endlich frei“ zu werden,
sondern um endlich ganz zu werden.
Wie es weitergehen kann
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Und wenn dich der Artikel berührt hat, lies in den nächsten Wochen hier im Blog weiter.
Jeder Artikel dieser Serie beleuchtet ein anderes Gesicht deiner frühen Bindung –
und zeigt dir, wie du Schritt für Schritt in echten, fühlbaren Kontakt mit dir selbst kommst.




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