Wenn Nähe zur Gefahr wird
- Manuel Schönthaler

- 5. Dez.
- 4 Min. Lesezeit
Wie Kontrollmuster in verletzten Bindungssystemen entstehen – und wie du dich davor schützen kannst

Es gibt Begegnungen, die sich im ersten Moment wie ein warmer Strom anfühlen. Menschen, die besonders feinfühlig wirken, intensiv verbunden, fast seelenverwandt. Und doch kippt diese Nähe oft plötzlich in Distanz, Vorwürfe, Rückzug, Kontrollversuche – oder in ein Schweigen, das schwerer wiegt als Worte.
Wenn du eher ein empathischer Mensch bist, kennst du das vielleicht gut:
Du willst verstehen, du willst fühlen, du willst Kontakt auf Augenhöhe.
Aber stattdessen landest du immer wieder in Beziehungen und Freundschaften, in denen du dich plötzlich verantwortlich für die Emotionen anderer fühlst – und gleichzeitig von ihnen beschuldigt, bewertet oder kontrolliert wirst.
Dieser Artikel soll dir helfen, diese Muster zu verstehen – ohne Schuldzuweisung, ohne Drama, ohne jemanden klein zu machen. Transparenz heilt. Und Klarheit schützt.
Was in toxischen Dynamiken wirklich passiert
Viele Menschen tragen Bindungsverletzungen in sich, die sie nie benannt haben. Sie wirken vielleicht selbstbewusst, reflektiert oder spirituell – doch unter der Oberfläche arbeitet ein Nervensystem, das Nähe gleichzeitig sucht und fürchtet.
Typische unbewusste Schutzstrategien sind:
• Kontrolle im Außen, wenn innen Chaos herrscht
Wer innerlich in die Ohnmacht fällt, versucht oft im Außen wieder Halt zu finden:
durch Forderungen, Vorwürfe, Rechthaben, Manipulation oder Distanz.
• Rückzug oder Schweigen, um Scham nicht fühlen zu müssen
Manche Menschen „frieren innerlich ein“. Sie verschwinden, statt Emotionen zu zeigen.
• Umkehr von Täter- und Opferrollen (Trauma der eigenen Täterschaft)
Wenn jemand sich selbst nicht als verletzend erleben darf, wird das eigene unangenehme Gefühl unbewusst nach außen verschoben – oft auf den empathischen Part.
Das zeigt sich dann in Sätzen wie:
„Du bist unfair.“
„Du machst Druck.“
„Du bist schuld, dass ich mich schlecht fühle.“
• Spirituelle oder intellektuelle Umdeutungen
Echte Emotionen werden ersetzt durch Selbstaffirmationen, Erklärungen oder Theorien – alles, was die innere Verletzlichkeit nicht sichtbar werden lässt.
Nichts davon geschieht aus Böswilligkeit.
Es sind Überlebensstrategien, die einmal notwendig waren.
Aber sie können dich als empathischen Menschen zerstören, wenn du sie nicht erkennst.
Warum gerade empathische Menschen in diese Dynamiken geraten
Empathische Menschen haben oft die Tendenz:
Verantwortung zu übernehmen, selbst wenn sie nicht ihnen gehört
Verständnis mit emotionalem Kontakt zu verwechseln
den Schmerz anderer stärker zu spüren als ihren eigenen
Hoffnung mit Realität zu verwechseln („Ich spüre doch ihr Potenzial…“)
Grenzen erst zu setzen, wenn sie längst verletzt wurden
Das macht sie attraktiv – aber auch verletzlich.
Denn wenn ein Mensch mit tiefem Beziehungsschmerz jemanden trifft, der fühlt, hält, versteht und Nähe anbietet, entsteht bei ihm zunächst Erleichterung – und dann Panik.
Und diese Panik zeigt sich fast nie als Panik.
Sondern als Kontrolle.
Die typische Eskalationsschleife
Viele Betroffene berichten von einem fast immer gleichen Kreislauf:
Phase 1: Nähe und Idealisierung
Der Kontakt ist intensiv, fühlen fällt leicht, man wird „gesehen“.
Phase 2: Trigger und Scham
Etwas berührt alte Verletzungen.
Ohnmacht, Scham oder Angst steigt auf.
Phase 3: Kontrolle
Statt das Gefühl zu benennen, entstehen:
Vorwürfe
Forderungen
sachliche Härte
emotionale Kälte
Rückzug
oder neue Regeln („So geht das nicht…“)
Phase 4: Schuldzuschreibung
Die Verantwortung wird externalisiert.
Der empathische Mensch landet im Rechtfertigungsmodus.
Phase 5: Der empathische Mensch übernimmt die Schuld
…weil er Frieden will.
…weil er fühlt, was im anderen los ist.
…weil er sich verantwortlich fühlt.
Und schon ist die Falle zu.
Das eigentliche Problem: Der Kontakt findet nicht auf derselben Ebene statt
Empathische Menschen kommunizieren emotional.
Verletzte Menschen oft funktional.
Der eine zeigt Gefühl.
Der andere zeigt Strategie.
Nicht aus Bosheit, sondern weil genau das früher überlebenswichtig war.
Du kannst niemanden dazu drängen, diese Ebene zu verlassen.
Du kannst aber entscheiden, ob du sie weiter mitträgst.
Wie du dich aus der Schuld- und Verantwortungsfalle befreist
1. Erkenne den Unterschied zwischen Emotion und Kontrolle
Frage dich: Kommt hier gerade ein Gefühl – oder ein Management von Gefühlen?
2. Nimm deinen Körper ernst
Wenn dein Brustkorb eng wird, dein Bauch hart, dein Kopf voller Nebel –
dann stimmt etwas nicht. Dein Körper lügt nie.
3. Antworte nicht auf Kontrollimpulse
Nicht erklären.
Nicht rechtfertigen.
Nicht beruhigen.
Nicht besänftigen.
Schweigen ist manchmal die gesündeste Grenze.
4. Ziehe klare energetische Grenzen – auch digital
Blockieren ist kein Angriff.
Es ist Selbstschutz.
Es beendet die Schleife.
5. Verwechsle Mitgefühl nicht mit Verantwortung
Mitgefühl: Ich sehe deinen Schmerz.
Verantwortung: Ich löse ihn für dich.
Beides hat nichts miteinander zu tun.
6. Wege der Heilung – für dich und für andere
Wenn du dich aus solchen Dynamiken lösen willst, brauchst du Methoden, die dein Nervensystem regulieren – nicht noch mehr deinen Kopf beschäftigen und in endlosen Gedankenschleifen, Grübeln oder Anpassung münden.
Folgende Tools sind dabei besonders wirksam
• NARM (Neuroaffektives Beziehungsmodell)
Löst Bindungs- und Identitätsverletzungen dort, wo sie entstanden sind: im Körper, in der Beziehung, im Nervensystem.
• Ehrliches Mitteilen (EM) / Verkörperte Resonanz
Fördert fühlenden Kontakt, Co-Regulation und sichere Nähe ohne Überforderung. Hier kannst du im Freitags-EM-Fühlraum teilnehmen oder auf Telegram 1:1 EMs vereinbaren.
• Projektionsauflösung / Floating
Bringt Klarheit, wem welche Emotion wirklich gehört – und schützt vor falscher Verantwortungsübernahme. Hier kann ich dich dabei in einer Session unterstützen.
• Traumatherapeutische Körperarbeit
Verankert Grenzen, Kraft und Präsenz im Körper statt im Kopf. Z.B. in einer Stuhlarbeit oder einer Reise an deinen sicheren Ort.
• Somatisches Fühlen / Embodiment
Hilft dir, Bedürfnisse im Körper wahrzunehmen, bevor sie dort überfahren werden.
• Polyvagal-basierte Regulation
Stärkt den ventralen Vagus, damit du auch in schwierigen Kontakten bei dir bleibst.
• Selbstbegegnung / Teilearbeit / IFS / Ego States
Macht innere Muster sichtbar, ohne dich selbst oder die Anteile dabei zu verurteilen.
In der ICH-Arbeit begleite ich dich, um dir selbst und deinem inneren Kind zu begegnen.
Das Wichtigste zum Schluss
Du bist nicht verantwortlich dafür, wie andere Menschen mit ihren Emotionen umgehen.
Du bist nicht verpflichtet, ihre Ohnmacht zu tragen.
Du bist nicht dazu da, jemandes Scham zu beruhigen.
Du musst dich nicht klein machen, damit andere sich groß fühlen.
Du darfst Nein sagen.
Du darfst Grenzen setzen.
Du darfst blockieren.
Du darfst dich schützen.
Du darfst dich befreien.
Und du darfst dir Menschen suchen, die mit dir fühlen, statt dich dafür zu bestrafen, dass du es kannst. Denn du bist nicht dafür verantwortlich, wenn Nähe zur Gefahr wird - für sie.
Wenn du dir dabei professionelle Unterstützung wünschst, lass uns hier sprechen. Oder schreib mir eine E-Mail an lets@justfuckindo.it. Du bist damit nicht allein.



